Die Einigkeitslüge des Staats Türkei

Christopher de Bellaigue „Rebellenland – Eine Reise an die Grenzen der Türkei“, 320 Seiten, 19,90 €, C. H. Beck, ISBN: 978-3406577536;

bellaigue

Am Einzelfall das Generelle darstellen, das ist das Wesen der Reportage. Insofern hat der britische Journalist Christopher de Bellaigue auf seiner fast dreijährigen Zeitreise durch das ostanatolische Städtchen Varto eine klassische Reportage geschrieben. Sie ist das Beste, was ich bisher über innertürkische Konflike gelesen habe.

De Bellaigue berichtet durchaus engagiert und pointiert, lässt sich aber nicht einfangen – nicht von Armeniern, nicht von Aleviten, nicht von Kurden, Sunniten und Türken. Um all diese Gruppen geht es in seiner Reportage, um den Wandel des osmanischen Vielvölker-, Vielkulturen-Reiches, zum heutigen Nationalstaat Türkei – der, wie der Brite eindrucksvoll zeigt, eine Lüge ist.

Auch wenn in Varto, dieser bettelarmen, von Ankara schändlich vernachlässigten Kleinstadt, seit der Ermordung und Vertreibung der Armenier 1915 offiziell nichts mehr von deren Existenz zeugt, sind ihre Spuren auch über 90 Jahre danach noch allgegenwärtig, bisweilen auf eine makabre Art:

„Ein Einheimischer erzählte mir einmal, wie er als Schuljunge in den achtziger Jahren mehrere seiner Mitschüler mit einem Menschenschädel Fußball spielen sah, den sie in einem durch einen Wolkenbruch freigelegten Massengrab gefunden hatten. Es handelte sich, wie die Buben erklärten, um den Schädel eines Armeniers, also eines Ungläubigen, insofern war es in Ordnung, ihn zum Kicken heraus zu nehmen.“

De Bellaigue erzählt die Mythen von Varto, jene alten, mündlich überlieferten  Geschichten, die gerade für die kurdische Stammesgesellschaft Quell ihrer Identität sind. Er erzählt sie, und er entschlüsselt sie für uns europäische Leser.

Der Journalist, der mit einer Iranerin verheiratet ist und in Teheran lebt, spricht nach einem früheren Aufenthalt in Istanbul perfekt Türkisch. Er sieht südländisch aus und wird doch äußerst misstrauisch aufgenommen: Britischer Spion oder armenischer Revanchist, mit solchen Vorwürfen sieht er sich immer wieder konfrontiert und schafft es doch, tief einzudringen in diese seltsam verschwurbelte Gesellschaft.

Bisweilen verliert er sich auch in den Details, ist es schwierig ihm auf den Pfaden von Revolutionären, Verrätern und Seperatisten zu folgen. Am stärksten ist „Rebellenland“ in der Darstellung der Gegenwart.

De Bellaigue liefert eine schlüssige Interpretation des Kurdenkonflikts und den Ursachen dieses „in den Bergen“ geführten Guerillakriegs, der militärisch nicht entschieden werden kann. Der Journalist reiste dafür bis in den Nordirak, wo sich bis heute führende PKK-Kommandeure versteckt halten.

Er lässt an seiner Verachtung von „Apo“, des seit 1999 inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan, keinen Zweifel und empfindet Mitleid mit jenen türkischen Wehrpflichtigen, die die allmächtige Armee im wilden Osten als Kanonenfutter missbraucht.

Immerhin: Christopher de Bellaigue seht auch einen Hoffnungsschimmer. Der demokratische Aufbruch durch Staatspräsident Erdogan lasse eine Regionalautonomie für die Kurden (ähnlich wie in Südtirol) wieder näher rücken.

Leider ist die Entwicklung des zerrissenen Landes zuletzt wieder in die andere Richtung gelaufen, wie der öffentliche Aufruhr Ende Februar bewies, als der  Abgeordnete Ahmet Türk im türkischen Parlament eine kurdische Ansprache hielt, für die ihm nun eine Haftstrafe droht. Armes Land!

Ein Meisterwerk zum Verständnis der Türkei.

Bewertung: *****

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