Ernst bekommt seine Würde zurück

Robert Domes „Nebel im August – Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“, 352 Seiten, 7,95 €, C. Bertelsmann, ISBN: 978-3570304754;

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Schon wieder ein Buch über die Nazizeit? Reicht es nicht langsam mit diesem Thema? Nein, während über Judenvernichtung und Wehrmachts-Verbrechen hunderte Bücher geschrieben wurden, ist das Thema Euthanasie bis heute kaum bearbeitet. Dabei sind die Opfer allgegenwärtig: Angeblich „unwertes Leben“ wurde etwa am Bezirkskrankenhaus Wolfratshausen durch Zwangssterilisation „behandelt oder gar, wie in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee, „vernichtet“. Ernst Lossa war eines der Mordopfer.

Jahre lang ging Robert Domes, ehemaliger Lokalchef der „Allgäuer Zeitung“ in Kaufbeuren und jetzt freier Journalist, mit dem Schicksal des Jugendlichen schwanger. Mal sollte daraus ein Film entstehen, eine Doku, ein Drama, jetzt wurde es ein Buch, ein sehr lesenswertes.

Ernst Lossa war erst 14 Jahre alt, als er 1944 im Auftrag von Verwaltungsleiter Josef Frick und dem Ärztlichen Leiter Valentin Faltlhauser eine tödliche Spritze verabreicht bekam. Zu schulden kommen lassen hatte er sich nach heutigen Maßstäben nichts. Für die NS-Schergen galt der Angehörige des Volkes der Jenischen als „asozialer Psychopath“ und als „Zigeuner“ und damit als nicht-arisch und als unwertes Leben.

Ernsts Mutter starb, als der Bub vier Jahre war. Der Vater verdingte sich als „fahrendes Volk“, als Hausierer mit einem Bauchladen für Stoffe, Kurzwaren und Ähnliches und ernährte so auch seine drei Kinder. 1936 wurde der Vater ins KZ Dachau verschleppt, Ernst und seine beiden Schwestern kamen ins Heim. Dort fiel der Junge vielfach auf, als Dieb, kam in ein Heim für Schwererziehbare und wurde dort so beschrieben: als „an sich gutmütiger, aber völlig willenloser, haltloser, fast durchschnittlich begabter, triebhafter Psychopath“.

Dieses Gutachten war Ernsts Todesurteil. Zwei Jahre hungerte und litt der Halbwüchsige noch in Kaufbeuren-Irsee, bevor er ermordet wurde. Und er hatte das System längst durchschaut: Einen Tag vor seinem Tod überreichte er einem wohlmeinenden Pfleger ein Foto von sich, „zum Andenken“ steht hinten drauf.

Robert Domes hat die erschütternde Geschichte sachlich-ruhig, detailreich und ohne rührseliges Pathos niedergeschrieben. Aus Ernst Lossa macht er keinen Helden – wie es etwa mit der gleichaltrigen Anne Frank geschehen ist – er schildert ihn als das, was er war: ein normaler Junge, mit sozialer Kompetenz, manchmal vielleicht etwas wild, auch mutig – aber eigentlich einer wie Du und ich.

Das Verdienst des Buches ist, dass dem Opfer Ernst durch die Erinnerung die Würde zurückgegeben wird und dass die Täter, die Funktionäre in der Irrenanstalt, ebenfalls ein Gesicht bekommen. 1949 waren sie zu geringen Haftstrafen verurteilt worden – wegen Beihilfe zum Totschlag.

Hoch spannend auch die Schilderungen über die Lebensweise der Jenischen, deren Herkunft bis heute im Dunkeln ist und weitere Recherchen lohnt.

Bewertung: *****

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Ein Gedanke zu „Ernst bekommt seine Würde zurück

  1. Stellt doch nicht immer solch interessante und gute Bücher vor. Wo soll ich denn die Zeit hernehmen? Nein, im Ernst. An diesem Buch werde ich wohl nicht vorbei kommen. Ich habe vor einiger Zeit „Der unwerte Schatz“ von Timo Hemmann zur gleichen Thematik gelesen. Das sind wichtige Bücher, weil dieses Thema immer noch sehr selten behandelt wird.

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