Wie die DDR-Bürger wirklich lebten

Peter Pragal „Der geduldete Klassenfeind – Als West-Korrespondent in der DDR“, 304 Seiten, 19,95 €, Osburg, ISBN: 978-3940731098;

Das Leben der Anderen mal ganz anders. Der ehemalige SZ-Journalist Peter Pragal war von 1974 bis 1990 mit einer Unterbrechung Korrespondent in der DDR. Der erste, der sich dem zweiten deutschen Staat mit Haut und Haaren widmete, spricht: Er lebte mit seiner Familie in Ost-Berlin und war kein Pendler, wie seine Kollegen. Sein amüsantes, aber ebenso kritisches Buch liefert sehr interessante Einblicke.

„Tal der Ahnungslosen“, so hieß in der DDR die Region Dresden, weil die DDR-Bürger dort kein Westfernsehen empfangen konnten. Pragal zeigt, wo die wirklich Ahnungslosen lebten, nämlich hier im Westen. Während die meisten Ossis wussten, was bei uns läuft, waren wir angewiesen auf Insidertexte wie Peter Pragals beliebte SZ-Kolumne „Notizen aus dem DDR-Alltag“.

Pragal schildert die untergegangene DDR im besten journalistischen Sinne: als Beobachter, mit Distanz, aber ohne Vorurteile. Er beschönigt nicht, aber er ist auch nicht Anwalt der Opfer des Regimes, dessen Taten er nicht verschweigt. Pragal selbst war immer bewusst unter Beobachtung der Staatssicherheit zu stehen. Wie intensiv diese war, erfuhr er erst, als er nach dem Mauerfall seine Stasi-Akte las. „Pragal war bemüht, wie ein DDR-Bürger zu leben und zu denken“, notierte ein Informant.

Ganz so war’s natürlich nicht, die Unterschiede waren dem Journalisten immer bewusst: Er konnte frei reisen, hatte zwischendurch auch eine Wohnung in West-Berlin, er bekam auch in Ost-Berlin die West-Presse, er wurde beim Grenzübertritt nicht gefilzt und konnte auch in der DDR Westprodukte einkaufen. Die besorgte er allerdings auch seinen Freunden in Ost-Berlin.

Pragal schrieb, was er sah – ohne Angst vor Repression. Er fühlte sich einigermaßen sicher, ohne überheblich zu werden und bekam mehr als einmal auch die Hartleibigkeit und den Trotz der DDR-Behörden zu spüren. Er bewegte sich frei auf der Straße und notierte, was er mit bekam, und er saß mit Parteigenossen in der Sauna und hörte viel, was gewiss nicht für seine Ohren bestimmt war.

Besonders aufschlussreich sind die Passagen über den Familienalltag, über die Erfahrungen von Sohn Markus als West-Kind in der DDR-Grundschule, mit einer Begeisterung für rote Fahnen und Umzüge und doch nicht wirklich empfänglich für ideologische Indoktrinierung.

Ein spannendes, ein unterhaltsames und ein wichtiges Buch, weil es aus dem Alltag berichtet und viele bestehende Unterschiede zwischen Ossis und Wessis erklärbar macht. Geschichtsschreibung im besten Sinne. Vieles wirkt heute schon skurril, wie werden wir es in 20 Jahren lesen.

Bewertung: *****

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