Im postpubertären Größenwahn

Andreas Bernard „Vorn“, 249 Seiten, 16,95 €, Aufbau, ISBN: 978-3351032944;

Ein Leben zwischen Schumann’s, Brit-Pop-Konzert und kollektivem Größenwahn. Der Münchner Journalist Andreas Bernard hat einen Roman über seine späte Jugend in den 90ern geschrieben, als er als Autor und Redakteur der SZ-Jugendbeilage „Jetzt“ seine Karriere startete. Nicht immer überzeugend: Es gibt interessante Einblicke in dieses ganz besondere München-Feeling, aber eine bisweilen platt erzählte Rahmenhandlung.

Tobias Lehnert ist das Alter Ego Bernards: Der Münchner hat gerade sein Studium beendet, jobbt in einem Flüchtlingsheim und ist seit Jahren liiert mit Emily, einer jungen Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Und er ist begeisterter Leser von „Vorn“ (alias „Jetzt“), einem Magazin, das durch seine eigene Sprache, seine Themensetzung Kultstatus hat.

Je tiefer Lehnert in die  Welt des Szene-Journalismus einsteigt und sich mitreißen lässt von Extravaganz und Fankult, umso mehr verliert er seine Wurzeln, seine Erdung und natürlich auch Emily. Die blonde Paraktikantin Sarah soll ihm Ersatz sein …

Christoph Amend, auch so ein „Jetzt“-Gewächs und inzwischen bei der „Zeit“, beschrieb das einmal so: „Endlich kam man in die Clubs rein, die einen als Teenager draußen stehen ließen. Endlich konnte man die Popstars und Schauspieler und Schriftsteller treffen, die man schon lange bewunderte.“ Und in der legendären Bar „Schumann’s“, davon ist in „Vorn“ ständig die Rede, bekamen die Jetzt-Redakteure auch dann einen Tisch, wenn alle anderen Gäste schon an der Tür abgewiesen wurden.

Weniger die Geschichte fasziniert (in der Tobias‘ Trennungsschmerz zur Kitsch-Arie wird), und auch Bernards Sprache ist eher schlicht und nicht eben elegant, dafür aber lesen sich – für mich als Provinzjournalist sowieso – die Beschreibungen des „Jetzt“-Universums spannend: Dieses übersteigerte Selbstwertgefühl, dieses Jungs-Getue, dieser Größenwahn – unglaublich!

„Jetzt“ wurde 2002 eingestellt, damit tut Bernard, heute Mitarbeiter im „SZ-Magazin“, mit seinem Entwicklungsroman niemandem weh. Im Interview mit seinem Arbeitgeber sagte er neulich: „Von außen betrachtet war die Redaktion wohl gar nicht so besonders, aber es gab damals definitiv eine gewisse Illusionsbereitschaft unsererseits. Wir haben zeitweise wirklich gedacht, wir erfinden den Journalismus neu.“

Lesenswert? Naja. Für München-Fans schon, für Enddreißiger, die „Jetzt“ als Offenbarung empfanden, sicher auch, für alle anderen sicher nicht.

Bewertung: ****

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