Der Verräter saß am gleichen Tisch

Inga Wolfram „Verraten – Sechs Freunde, ein Spitzel, mein Land und ein Traum“, 310 Seiten, 19,90 €, Artemis & Winkler, ISBN: 978-3538072718;

Es sind gerade mal 20 Jahre, dass die Mauer fiel und noch nicht einmal 20 Jahre, seit die DDR durch die Wiedervereinigung Geschichte wurde. Und doch scheint es, dass dieser pervertierter Sozialismus-Versuch, der in einer Spitzel-Diktatur endete, schon lange vorbei oder gar nie existiert hätte. Wie das so war, das rückt Inga Wolframs „Verraten“ zurück in unseren Blick.

Der Fortbestand der DDR als zweite deutsche Demokratie wurde 1990 nicht ernsthaft diskutiert, zumindest im Westen nicht. Bei dem unglaublichen schnellen Untergang der DDR ging verloren, wie viele Kräfte, wie viele Kreise es schon lange zuvor gegeben hatte, deren Ziel es war, die DDR zu verbessern – „ein Traum“, wie es im Untertitel dieser höchst spannenden Aufarbeitungsgeschichte heißt.

Sieben Freunde waren es, sechs Philosophen und ein Psychologe, allesamt aufgewachsen in der DDR, Kinder des Systems und beseelt davon ihm ein, wie es so schön heißt, „menschlicheres Antlitz“ zu geben. Ihre konspirativen Treffen waren mit der nötigen Vorsicht konzipiert, um ja nicht aufzufallen. Doch dies war vergebens. Denn der Verräter saß mit dabei. Arnold Schölzel, seinerzeit ein eminent fleißiger Stasi-Spitzel und heute Chefredakteur der marxistischen Zeitung „Junge Welt“.

Hat er die sechs Freunde verraten? Nein, sie haben 17 Millionen DDR-Bürger verraten, lautet Schölzels Antwort auf eine entsprechende Frage von Inga Wolfram, die über den Freundeskreis, dem auch ihr Mann Klaus angehörte, auch eine ARD-Dokumentation gedreht hat.

5000 Seiten stark ist die Akte, die Schölzel alias „IM André Holzer“ zusammentrug. Mit unfassbarer Akribie meldete er jedes Gespräch fast Wort für Wort weiter, in dem sich die jungen Leute, als „Romantiker“ verspottet, über bessere Sozialismuskonzerpte diskutierten. Inga Wolfram dokumentiert beide Perspektiven: Sie erzählt die Geschichte des Denkerkreises aus deren Sicht und zitiert aus den Stasi-Berichten. Das verleiht dem Buch mal große Tragik mal unfreiwillige Komik.

Dabei erzählt Inga Wolfram nicht nur DDR-Gesellschaftsgeschichte, sie reflektiert auch ihre eigene Sozialisation im real existierenden Sozialismus: Tochter eines Russin und eines privilegierten DDR-Intellektuellen änderte sich ihr Blick auf Staat und Gesellschaft radikal, als sie ihr Studium in Berlin aufnahm und ihren späteren Mann Klaus kennenlernte.

Eine faszinierende Geschichte, die zeigt, dass der Idealismus der jungen Leute in BRD und DDR viel ähnlicher waren als es die von außen wahrgenommene Gesellschaftswirklichkeit scheinen ließ.

Bewertung: *****

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