Im stillen Haus trifft sich die türkische Seele

Orhan Pamuk „Das stille Haus“, 368 Seiten, 24,95 €, Hanser, ISBN: 978-3446234000;

Pamuk_Haus

Ich oute mich als Fan: Orhan Pamuk ist ein wunderbarer Erzähler, seine Romane sind im besten Sinne Weltliteratur. „Schnee“, der Roman der ihn weltberühmt machte, öffnete mir die Augen für die Schönheit und die Finsternis des ostanatolischen Hochlands. Wer einmal in Kars war, wird mich verstehen. Und nun hat der Hanser-Verlag auch noch den vor 27 Jahren erschienenen, zweiten Roman des Nobelpreisträgers von 2006 auf deutsch veröffentlicht. Schön, sehr schön!

Orhan Pamuk ist Türke mit jeder Faser, aber noch mehr ist er Istanbuler. Seine Literatur trägt das jahrtausendealte, multikulturelle Erbe Konstantinopels und Byzanz – der Metropole an der Bruchstelle zwischen Orient und Okzident.

Und das verkörpert auch die 90-jährige, verwitwete  Fatma, die mit ihrem zwergenhaften Diener Recep  in der alten Villa am Marmarameer lebt, zu der jeden Sommer für ein paar Wochen die drei Enkel zu Besuch kommen. So auch im schicksalhaften Jahr 1980, das für die türkische Intelligenz bis heute ein Trauma darstellt.

Denn das Militär übernahm die Macht, es setzte die demokratisch gewählte Regierung ab und gab dem Land eine neue Verfassung, die bis heute Gültigkeit hat und den aktuellen Kampf zwischen alten, autoritären Kräften und der noch jungen Bürgergesellschaft schürt.

1980 also, das Land zerrissen wie die drei Geschwister: Metin, der jüngste, ist Gymnasiast, zieht mit seiner Clique umher, nach Alkohol und Drogen, und träumt von Amerika. Die kluge Nilgün liest Turgenjew und entwickelt sozialistische Tendenzen. Und Faruk, der älteste, ist Historiker, hat seine Frau verloren und ist – wie der verstorbene Großvater – dem Alkohol verfallen, verkörpert aber – im Unterschied zu diesem ein rückwärts gewandtes Weltbild.

Drei Entwürfe für die Türkei von 1980. Und als Kontrapunkt spukt da noch der Geist von Selahattin, Fatmas Ehemann, durch das alte Gemäuer. Der Arzt war zu seiner Zeit ein Freigeist. Er wollte so etwas schreiben, wie eine Enzyklopädie aller mit Vernunft erklärbaren Dinge (Parallelen mit Pamuks „Museum der Unschuld“ sind bestimmt zufällig). Er scheitterte, nicht zuletzt an der Frömmigkeit seiner Frau.

Einen tiefen Blick ins Seelenleben der Türkei hat Pamuk da geworfen (als 31-Jähriger!) und sie aus neutraler Perspektive einander gegenüber gestellt. Dieses Werk schließt nicht nur eine Lücke, es gibt auch Aufschluss über die Ursachen der heutigen Zerrissenheit des EU-Beitrittskandidaten Türkei.

Bewertung: *****



Short URL for this post: http://bit.ly/d8Gq2B
Diesen Beitrag bookmarken bei Diese Icons verlinken auf Bookmark Dienste bei denen Nutzer neue Inhalte finden und mit anderen teilen können.
  • MisterWong
  • Y!GG
  • Webnews
  • del.icio.us
  • Facebook
  • Technorati
  • Google Bookmarks
  • YahooMyWeb
  • TwitThis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert