„Ich war Miss Auschwitz“

Zyta Rudzka „Doktor Josefs Schönste“, 315 Seiten, 21,95 €, Ammann, ISBN: 978-3250601241;

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„Miss Auschwitz“ gewesen zu sein, ist das zynisch? Nein, für die damals zwölfjährige Czechna war die Begegnung mit dem ungeheuerlichen Dr. Josef Mengele die Rettung ihres Lebens, und ein innerer Wendepunkt.

„Miss Auschwitz“, so nennt sich Frau Czechna auch noch Jahrezehnte später, als sie inzwischen eine hinfällige, alte Frau in der Seniorenresidenz ihr Dasein fristet, mit Herrn Henoch, Frau Benia, Herrn Leon und all den anderen Überlebenden ihrer Generation – geplagt von der Respektlosigkeit des Pflegepersonals.

Und so kommt das Leiden im KZ wieder näher und wird glorifiziert. Mengeles einstiger „Liebling“ hatte bei dessen Experimenten sogar einen Unterarm verloren und fühlte sich in Auschwitz doch lebendiger als jetzt im Seniorenheim, wo Menschenwürde erneut keinen Stellenwert mehr hat.

Und auch ihren Mitbewohnern, deren Geschichten ebenfalls erzählt wird, geht es nicht viel besser. Das „Haus am See“, der Hospiz des Pflegeheims, wird zur Analogie des Gaskammern im KZ – was für ein verstörender Albtraum.

„Ich war Miss Auschwitz“. Mir fällt dazu die Geschichte eines Kollegen ein, Fotograf, inzwischen fast 85 Jahre lang. Als junger Mann wurde er an die Ostfront geschickt, ein Bein ist seit einem Steckschuss steif. Doch immer wieder erzählt er vom Krieg, als ob sein Leben damals stehen blieb. So ähnlich geht es Frau Czechna – nur die Perspektive ist eine andere.

Ein sehr beeindruckendes, mutiges Buch. Autorin Zyta Rudzka, 45, Nachgeborene, ist Psychotherapeutin, das erklärt auch, warum sie so tief ins Seelenleben vorrücken konnte, ohne kitschig zu werden.

Ein Appell an die Menschenwürde, auch wenn die Parallele zwischen Judenvernichtung und Seniorenruhesitz auf den ersten Blick gewagt erscheinen.

Bewertung: *****

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2 Gedanken zu „„Ich war Miss Auschwitz“

  1. Hallo,

    bei Claudio Magris („Donau“) las ich kürzlich, zu welchen Grausamkeiten Mengele fähig war. Die Judenvernichtung in Beziehung mit Zuständen in einem Seniorenheim setzen zu wollen, halte ich für mehr als gewagt, nämlich für ziemlich dumm. Der zwölfjährigen Czechna kann man wegen ihrer Blauäugigkeit keinen Vorwurf machen, der alten Frau Czechna schon, es sei denn, die alte Dame ist inzwischen geistig so hinfällig, dass sie nicht mehr zur Reflektion fähig ist. „Mengeles einstiger Liebling“, oh.je. Warum sollte ich mir so etwas reinziehen?

    Liebe Grüße
    Martin

  2. Über den Vergleich zwischen Holocaust und Seniorenheim kann man sicher streiten. Für einen deutschen Autor wäre er – zu Recht – unmöglich. Aber die fehlende Reflektion ist menschlich nach einem solch dramatischen Erlebnis, das auch mit Schuldgefühlen („Warum habe ausgerechnet ich überlebt?“) einher geht.

    Wir hatten gestern den 70. Jahrestag des Kriegsbeginns. Wie viele ehemalige Wehrmachtsoldaten, unsere Großväter, können bis heute nicht über das Erlebte sprechen?

    Ich bleib dabei: Zieh’s Dir einfach rein.

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