Das Leben der (russischen) Anderen

Orlando Figes „Die Flüsterer“, 1088 Seiten, 34,90 €, Berlin, ISBN: 978-3827007452;

Das große Rußland erhebt sich von den Knien“, sagte einst Boris Jelzin. Dass das Riesenreich überhaupt dort landete, war die Folge des Scheiterns des russischen Kommunismus. Dessen ungezählter Opfer hat sich der britische Historiker Orlando Figes angenommen und vielen namenlosen Ermordeten ein Vermächtnis gegeben.

Hitler und Stalin lassen sich nicht vergleichen. Gleichwohl ist unbestritten, dass Stalin der furchtbarste Diktator des 20. Jahrhunderts gewesen wäre,   hätte es Hitler nicht gegeben. „Die große Säuberung“ in der 30er Jahren, bei der Hunderttausende Intellektueller zum Opfer fielen, hatte nur ein Ziel: Machterhalt.

„Flüsterer“ hat in Russland zwei mögliche Bedeutungen: Jenen, der flüstert, weil er fürchtet, dass jemand mithört, und den anderen, der flüstert, weil er andere hinter deren Rücken verrät. In Stalins Russland lebten beide Kategorien nebeneinander.

Figes sichtete Hunderte von Familienarchiven. Außerdem arbeitete er mit der Gruppe „Memorial“ zusammen. Deren Mitglieder interviewten  Tausende von Überlebenden. Aus dem umfangreichen Material formte Figes seine aufsehenerregende Studie. Es geht um Zwangsarbeit und um Deportation.

Der stalinistische Terror wird so ganz konkret, die Opfer und die zerstörerische Macht, die „Väterchen Stalin“ auf die russische Gesellschaft ausübte. Wie Menschen zestört wurden, zeigt Figes bei  Jelisaweta Delibsch.

Geboren 1928 in Sibirien anschaulich, verbrachte sie ihre Kindheit in verschiedenen Arbeitslager. Im Mai 1937 wurde ihr Vater hingerichtet, im November desselben Jahres ihre Mutter erschossen. Und auch ihre Verwandten starben eines gewaltsamen Todes: Onkel Grigori (April 1937), die Tanten Margo (Juli 1937) und Raja (August 1937).

Jelisaweta überlebte Staltins furchtbare Regentschaft, verlor aber nie das Gefühl, verlassen und nicht gewünscht zu sein. Dabei ist ihr Schicksal nur eins von  Millionen. Unter hunderten wählte Figes über 400 aus und erzählt sie auf behutsame Weise auf rund 1000 Seiten. Als der 49-Jährige auf dies Thema stieß – seine Großeltern mussten 1939 aus Deutschland flüchten -, war er sofort fasziniert.

Dieses gigantische Buch, 2007 erstmals in England erschienen, bringt Einblicke, die Ausländern bis heute in Russland verwehrt sind. Es gibt keine Helden in dem Buch, höchstens tragische. Die meisten bespitzeln ihre Freunde, veraten ihre Familie, um ihre Haut zu reden, oder auch nur um in der Karierreleiter ein Stückchen hochzuklettern. Figes enblößt die Erbarmungslosigkeit des  Terrors,  in dem Opfer und Täter sich kaum noch unterscheiden lassen.

Ein gigantisches Werk, eine Leisterleistung.

Bewertung ****

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