Vor der Selbsterkenntnis kommt der Schmerz

Anne Enright „Das Familientreffen“, 330 Seiten, 19,95 €, DVA, ISBN: 978-3421043702;

So stellt man sich Irland vor: Schwermütig, depressiv, aber auch hintergründig und komisch. Als sich Veronicas Familie nach dem Selbstmord von Bruder Liam trifft, brechen all die alten, mühsam unter der Decke gehaltenen Konflikte wieder durch. Ein Buch wie ein Vulkan – und zurecht dem englischer „Booker-Preis“ ausgezeichnet.

Völlig betrunken war Liam Hegarty, als er sich Steine in die Taschen steckte und selbst im Meer versenkte. Den kollektiven Kummer betäubt die nun noch zehnköpfige Familie wie gewohnt mit Whisky. Aber für Veronica hat sich alles geändert.

Sie weiß, warum Liam sich umgebracht hat. Im Zuge einer schonungslosen Selbstreflektion, ihrer Trauerarbeit, erarbeitet sie sich Stück für Stück ihre grauenhafte Kindheit. Das Damals hat auch unmittelbare Auswirkungen auf das Jetzt: Selbst ihre eigene, nur oberflächlich gute Ehe steht in Frage.

„Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großmutter geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Aber ob es wirklich geschehen ist? Mit Gewissheit kann ich es nicht sagen.“ Schon der Einstieg in dieses irisch-melancholische Familiendrama öffnet die Spur in Richtung Missbrauch, mit fest geformten Geschlechterrollen.

Bei den Hegartys gibt es nicht wirklich ein Wir, sie treffen sich in ihrer Not, nicht als Familie. Veronicas Schwester Kitty ist die Alkoholikerin; Ita kalt wie Stein; Ernest predigt nur, und Midge flüchtete ebenfalls aus dem Leben, weil sie unter der Verantwortung zerbrach, die ihr die unfähige Mutter, die teils nicht mal die Namen der Kinder kennt, früh übertragen hatte.

Veronicas Coming-Out führt sie zurück bis zur Großmutter, die ihre wahre Lüge verleugnet hatte. Aber aus all den Abgründen, aus all dem Alkohol und missbräuchlichen Sex, dem Schmerz und der Wut, erwächst am Ende Erkenntnis.

Ein Buch voller Kraft.

Bewertung: *****

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