Die ganze Welt in einem Mietshaus

Memduh Sevket Esendal „Die Mieter des Herrn A.“, 226 Seiten, 19,90 €, Union (Türkische Bibliothek), ISBN: 978-3293100152;

Esendal_Mieter

Noch so ein Roman, der zeigt, welch herausragende Literatur die Türkei hervorgebracht hat. Und wieder ist es der Schweizer Unionsverlag mit seiner  Türkischen Bibliothek, der dieses Kleinod übersetzen ließ. „Die Mieter des Herrn A.“ ist ein Sittengemälde aus den Anfängen der türkischen Republik.

Das Mietshaus als Spiegel für die (städtische) Gesellschaft. Mehr als 70 Jahre nach Esendal hat auch Elif Shafak in „Der Bonbonpalast“ dieses raffinierte Stilmittel angewandt. Esendal, Bauernsohn aus Corlu im europäischen Teil der Türkei, beschreibt das Leben in Ankara.

Ende der 20er Jahre, als der 1934 erschienene Roman spielt, hatte das Städtchen in Zentralanatolien nicht einmal 100.000 Einwohner. Staatsgründer Kemal Atatürk hatte dort 1923 die Republik ausgerufen und so verhindert, dass das Osmanische Reich komplett zerschlagen wird (Inzwischen hat das wild wuchernde Ankara fünf Millionen Einwohner).

Memduh Sevket Esendal (1883-1952) war im weitesten Sinne Weggefährte von Mustafa Kemal (Atatürk). Der Autodidakt war Generalsekretär von dessen Partei CHP, und er diente ihm als Gesandter in Baku/Aserbaidschan und in Teheran. Außerdem wirkte er als geschichts- und Geografielehrer und als Journalist.

„Wir leben auf einer Etage in einem neu errichteten Apartmenthaus, die ein gewisser Ayasli Ibrahim Efendi angemietet hat und zimmerweise weitervermietet. Neun Zimmer liegen hintereinander zu beiden Seiten eines ziemlich dunklen Flures.“ In einer schlichten, prägnanten Sprache erzählt Esendal, was sich hinter den Hausmauern in Ankara abspielt.

Ich-Erzähler ist ein junger Bankangestellter, der sich vor allem eins wünscht, ein ruhiges Leben. Aber das ist in einem solchen Haus mit derart schrägen Bewohnern kaum möglich. Liebe, Leidenschaft und Verbrechen tummeln sich hier: Von freizügigen Frauen, Kleinganoven und Opiumhändlern bis zu Ehebrechern und ganz normalen Menschen.

Eine Schule des Lebens für den Ich-Erzähler und ein überaus unterhaltsames, ja fast modernes Buch für den geneigten Leser der deutschen Übersetzung. Und es beweist auch noch, wie modern Atatürks Türkei war, säkular und gleichberechtigt – ganz anders als es heutigen Vorurteilen über dieses Land entspricht.

Bewertung: *****

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