Das akademische Prekariat

Christoph Hein „Weiskerns Nachlass“, 319 Seiten, 24,90 €, Suhrkamp, ISBN: 978-3518422410;

Wer interessiert sich schon für den vor über 200 Jahren in Wien lebenden Schauspieler, Mozart-Librettisten und Kartografen Wilhelm Weiskern? Er hat es nicht mal bis in Wikipedia gebracht. Rüdiger Stolzenberg, 59 Jahre alt, halbtags als Dozent tätig, hat Weiskern gleichwohl sein Forscherleben gewidmet – und scheittert.

„Wir betreiben eben unser Leben als Hobby, nicht um Geld zu verdienen.“ Beneidenswert dieser Satz Stolzenburgs – oder irgendwie doof? Die Selbstgewissheit, die hieraus spricht, hat der Mann jedenfalls längst verloren. Kein Mensch und schon gar kein Verlag interessiert sich für seine Arbeit,  seine Studenten ziehen ihn übern Tisch und versuchen ihn zu bestechen, und dann kommt auch noch das Finanzamt und fordert Steuern nach. Geld, das er nicht hat.

Der 59-jährige, hoch gebildete Mann ist endgültig im gesellschaftlichen Prekariat gelandet. Geld regiert sein Leben: Geld, das er nicht hat (Steuern), Geld, das man ihm anbietet (Student). Der Kulturwissenschaftler ist da gelandet, wo er nie hin wollte. Und nun bleibt ihm nur noch die Frage, ob Moral als Rettungsanker für verlorene Seelen taugt.

Christoph Hein, Jahrgang 1944, schon zu DDR-Zeiten im Westen gedruckt, lässt sich mit großer Intensität auf die heutige gesamtdeutsche Wirklichkeit ein. Existenzen, bei denen nichts mehr gewiss ist und alte Werte rasend schnell zerbrochen sind. Und die trotzdem kein Mitgefühl wecken: Stolzenburg etwa musste 45 Jahre alt werden, um erstmals eine halbe Arbeitsstelle zu bekommen.

Die 68-er machten sich einst auf den Marsch durch die Institutionen, aber nicht alle: manche blieben schon vorher hängen.

Hein ist ein intensives, beeindruckendes Gegenwartswerk gelungen.

Bewertung: ****

 

 

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