Wer ist nun die fremde Frau?

Ricarda Junge „Die komische Frau“, 188 Seiten, 17,95 €, S. Fischer, ISBN: 978-3100393296;

Die DDR ist auch mehr als 20 Jahre nach ihrem Zusammenbruch nicht vorbei, sie lebt weiter in Gestalt eines Gespensts, jener „komischen Frau“, von der die in Wiesbaden geborene und in Leiptig zur Schriftstellerin ausgebildete Ricarda Junge in ihrem neuesten, dem dritten Roman berichtet. Es geht um ein Berliner Haus, um das Haus, in dem die von Hamburg zugezogenen Lena und Leander einziehen und in dem der (Un-)Geist der Vergangenheit weiterlebt.

Die Hausvertrauensfrau herrscht noch immer über den sechsstöckigen Mietsbau unweit des Alexanderplatzes , dem die meisten Bewohner seit Jahrzehnten die Treue halten. Die Hamburger kommen aus einer anderen Welt, das wird ihnen sehr schnell klar. Die „komische Frau“ hat alles aufgeschrieben, was sich seit dem Bau des im Stile des sozialistischen Klassizismus errichteten Vorzeigeprojekts anno 1954 alles getan hatte: Wer dort wohnte und wieder auszog, wer geboren wurde und verstarb, wer zu Besuch kam und wer blieb. Alles wurde akribisch festgehalten und ergibt die Geschichte eines Soziotops.

Aber das Leben dort hat auch eine andere Seite, eine, an sich Lena und Leander, die beiden brotlosen Kunst-Yuppies (Schriftstellerin und Journalist klammern möchten, die „bunten Rosen in den Vorgärten“ und die „die strahlend hellen Fassaden, die Ruhe inmitten der Stadt“, die Kita, die der zweijährige Sohn Adrian besucht.

Aber das alles hilft nichts, zwei fremde Gesellschaften treffen aufeinander, Westen und Osten. Und das verursacht Angst und das Gefühl von Bedrohung. Und irgendwann spricht auch Adrian von der „fremden Frau“, und wer weiß, ob er die Vertrauensfrau im sechsten Stock meint oder doch seine zunehmend überforderte Mutter.

Ricarda Junge schildert hier eine – mit eigenen Erfahrungen gesprickte? – Geschichte aus der Mitte unseres Landes, eines Landes, das nicht nur Spannungen mit angeblich integrationswilligen Migranten kennt, sondern auch zwischen alt und jung, früher und heute. Das alte Haus ist da nur ein Vehikel für die unüberbrückbaren Gegensätze.

Ein leises, eindrucksvolles Buch, das viel mehr Beachtung verdient hätte.

Bewertung: *****

 

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