Zar Stalin muss sehr verärgert gewesen sein

Leonid Dobycin „Die Stadt N.“, 226 Seiten, 22,50 €, Friedenauer Presse, ISBN: 978-3932109614;

Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky nannte Leonid Dobycin einmal den bedeutendsten russischen Prosa-Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Dumm nur, dass bis vor wenigen Jahren den 1936 unter Stalin auf ungeklärte Weise umgekommenen Autoren bisher kaum einer kannte. Der kleine, aber sehr, sehr erlesene Verlag Friedenauer Presse hat dies geändert. Vor wenigen Monaten erschien Dobycins Hauptwerk „Die Stadt N.“ auf Deutsch (die erste Herausgabe bei S. Fischer von 1989 ist längst vergriffen) – und wurde von den Feuilletons ausgiebig gefeiert.

„Die Stadt N.“ passte 1935, 18 Jahre nach der Revolution, so gar nicht in das Bild des „Neuen Menschen“, von dem die russiche Führung träumte. Es wurde offiziell als „bürgerlich“ abgekanzelt. Auch wenn es nie verboten wurde, verschwand es ein Jahr später, nach dem mysteriösen Verschwinden Dobycins (dessen Leiche wurde nie gefunden), aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Sieben Jahre soll der Schriftsteller an dem nur 150 Seiten starken Roman geschrieben haben. Die Geschichte aus der Provinz, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, als noch in der Zarenzeit, steckt voller Zitate und versteckter Anspielungen auf die großen russischen Dichter. Wer darüber mehr wissen will, dem empfiehlt sich das hervorragende Nachwort von Herausgeber und Übersetzer Peter Urban.

Er schreibt als Fazit: Der Roman ist einem feinen Uhrwerk vergleichbar, in dem jedes noch so unscheinbare Rädchen ineinandergreift, ist ein erzählerisches Wunderwerk, in seinem Anspielungsreichtum schier unerschöpflich – und dürfte wohl noch Generationen von Kommentatoren beschäftigen.“

Vordergründig erzählt Dobycin die Geschichte eines 17-jährigen Burschen, der das Leben in seiner Heimatstadt an der russisch-lettischen Grenze erkundet und reflektiert. „Die Stadt N.“ ist nicht mal ein richtiger Roman, mehr so eine Aneinanderreihung von Beobachtungen, von Momentaufnahmen, die aber höchst einfühlsam zusammengestellt sind – in einer Sprache voller Unmittelbarkeit und Gleichmut.

Dass sich die Herrscher im Kreml angegriffen fühlten, wundert nicht: Sie wollten einen neuen Menschen nach ihrem Idealbild, Dobycin aber beschrieb den real existierenden Menschen. Ein großartiges Buch.

Bewertung: *****

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