Warum die Türkei bei „Völkermord“ empfindlich ist

Sibylle Thelen „Die Armenierfrage in der Türkei“, 96 Seiten, 9,90 €, Wagenbach, ISBN: 978-3803126290;

Erst vor ein paar Tagen gab es heftigste diplomatische Verwicklungen, als das schwedische Parlament eine Resolution wegen des türkischen Völkermords an den Armeniern vor bald 100 Jahren verabschiedete. Bis zu 1,5 Millionen Angehörige der christlichen Minderheit waren 1915, also noch vor Gründung der heutigen Türkei umgebracht worden. Die einzigen, die davon nichts wissen wollen, sind die Verantwortlichen in der Türkei. Die Stuttgarter Zeitungsredakteurin und versierte Türkei-Kennerin Sibylle Thelen hat den Stand der Diskussion in einem Buch zusammengefasst.

Wie in so vielen Fragen ist die türkische Gesellschaft in der Erörterung der ungeheuerlichen Frage dieses Genozids längst weiter als die Politik und die Stützen der Gesellschaft. Die befinden sich zwar innenpolitisch in ganz anderen Konflikten (Verschwörungspläne des Militärs, schleichende Islamisierung durch die Regierung), beim Thema Armenien aber stehen die sonst verfeindeten Kreise beinahe reflexartig zusammen.

Warum ist das so? Wie kam es eigentlich zu den Massenmorden und den Deportationen? Und wie wichtig für die Lösung des Tabus sind die Erinnerungen, die die Überlebenden des Völkermords ihren Nachkommen erzählten und die in den vergangenen Jahren in steigender Zahl als Bücher erschienen.

Und dann ist da noch der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink, profilierter Kämpfer für den Dialog und 2007 Opfer eines feigen Mordanschlags, dessen Verantwortliche bis heute gedeckt werden. Die studierte Turkologin Sibylle Thelen, die in jungen Jahren auch mal ein Jahr in der Türkei als Korrespondentin arbeitete, kannte nicht nur Dink persönlich, sie bewegt sich auch in den verschiedenen Kreisen der türkischen Obrigkeit mit hoher Sachkenntnis.

Sie begegnet der Türkei und ihren Ängsten nicht mit der hierzulande üblichen reflexartigen Ablehnung und Überheblichkeit, sondern auch mit Empathie für tief sitzende Minderwertigkeitsgefühle gegenüber Europa.

Der Armenienkonflikt, der vor zwei Jahren (mit einem Fußball-Länderspiel) begonnene und zuletzt wieder ins Stocken geratene Annäherungsprozess, und die Diskussion um einen EU-Beitritt des Nato-Staats  hängen alle miteinander zusammen. Wie, auch das erklärt Sibylle Thelen.

Das schmale Broschur ist Pflichtlektüre für jeden politisch interessierten Menschen, der sich ernsthaft, abseits aller Vorurteile mit der Türkei heute befassen möchte.

Bewertung: *****

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